NIE KLANG DAS ORCHESTER SCHÖNER | ALS IN DER REVOLUTION

SCHAUSPIEL in 5 Teilen für drei Männer, eine Frau, Marchingband **, immersives Multichannelvideo und (Live)Elektronik

 

gewidmet allen Verächtern von Antisemitismus und moralischen Doppelstandards

 

Schauspieltext (PDF)

 

 

 

 

»Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht. […] Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, dass das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, dass das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat.« - Hannah Arendt

 

„Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend, […] es ist gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen. - Offenkundig ist das Versagen der »Vernünftigen«, die in bester Absicht und naiver Verkennung der Wirklichkeit das aus den Fugen gegangene Gebälk mit etwas Vernunft wieder zusammenbiegen zu können meinen. In ihrem mangelnden Sehvermögen wollen sie allen Seiten Recht widerfahren lassen und werden so durch die aufeinanderprallenden Gewalten zerrieben, ohne das Geringste ausgerichtet zu haben. Enttäuscht über die Unvernünftigkeit der Welt, sehen sie sich zur Unfruchtbarkeit verurteilt, treten sie resigniert zur Seite oder verfallen haltlos dem Stärkeren.“ - Dietrich Bonhoeffer

 

Ausgelöst wurde das Stück durch einen Abschiedsbrief. Der Autor des Briefes ist Nikolai Bucharin, der sich in diesem Text von seinem Freund „Koba“ verabschiedet (vergl.: Karl Schlögel, „Terror und Traum“, Carl Hanser Verlag, München 2008). Koba ist sein langjähriger Weggefährte, der mit ihm und anderen die Revolution in Russland organisierte und erfolgreich durchgeführt hatte. Erfolgreich bedeutet, dass die Revolutionäre keinerlei Scheu hatten Hunderttausende, die ihnen im Wege standen, beiseite zu räumen, vulgo: umbrachten - u.a. indem sie sie dem sicheren Hungertod überließen. Zwanzig Jahre später ist Nikolai Bucharin, wie viele andere der ersten Garde auch, selbst entmachtet und Koba beherrscht das Land absolut mit Terror und Todesdrohungen. In einem fingierten Gerichtsverfahren (Dritter Moskauer Scheinprozess) wird Bucharin zum Tode verurteilt. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Abschiedsbriefes (10. Dezember 1937) ist das Urteil zwar noch nicht gesprochen, aber dank Koba steht es schon vor Prozessbeginn fest. Bucharin ist - wie viele andere auch - der Konterrevolution überführt - in seinem „Geständnis“ vom 02. Juni 1937 bezichtigt er sich „allgemein-theoretischer anti-leninistischer Ansichten“ - und ein überführter Konterrevolutionär kann nur mit dem Tode bestraft werden. Das weiß Bucharin genau. Das „Schuldeingeständnis“ vom 02. Juni 1937 dokumentiert abweichende ideologische Ansichten, die einen eigenständigen ideologischen Standpunkt erkennen lassen, keinesfalls aber Verbrechen, die ihm (oder seinen Mitangeklagten) das Leben kosten dürften. Das Ganze ist ein legalistisches Mordkomplott, das der Jahrhundertmörder Koba mit Hilfe einer korrupten Justiz inszeniert, um seine Macht absolut zu verfestigen. Bucharin gesteht etwas ein, das ohne die verkommene Bösartigkeit Stalins niemals eine Verurteilung zur Folge gehabt hätte. Aber „Koba“ = Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili = Stalin ist ein amoralisches, skrupelloses Schwein, das alles, was seinem absoluten Machterhalt gefährlich werden könnte, vernichtet. - Bucharin, der Kobas zutiefst bösartigen Charakter kennt, vollbringt das unglaubliche dialektische Wunder: er findet sich mit seiner Todesstrafe ab, obwohl diese ungerecht, falsch und in jeder Hinsicht verwerflich ist. Dennoch schreibt er seinem Jugendfreund Koba diese letzten freundlichen Zeilen in denen er sich für etwas entschuldigt, das sprichwörtlich nicht der Rede wert ist und niemals eine Verurteilung, geschweige denn ein Todesurteil rechtfertigt. Also wiederholt er seine generelle Schuldlosigkeit, vor allem weist er die Taten, für die er angeklagt und verurteilt werden wird, zurück. Mit diesem Brief hat er die Wahrheit gesagt. Sein Gewissen ist rein! - Das alles wird ihm dennoch nichts mehr nützen, auch das weiß Bucharin. Direkt nach der Urteilsverkündung des Todesurteils am 13. März 1938 wird er am 15. März 1938 durch Petr Ivanovic Maggo erschossen. Der NKWD-Chef Nikolai Jeschow persönlich beaufsichtigt die Exekution. Noch kurz vor der Exekution schrieb Bucharin eine letzte Nachricht an seinen Mörder: „Koba, why do you need me to die?“ («Коба, зачем тебе моя смерть?») Es ist überliefert, dass diese Notiz nach Stalins Tod am 05. März 1953 in dessen Schreibtisch gefunden wurde.

 

Das alles berücksichtigend, wird der Abschiedsbrief Bucharins ein tief beredtes Zeugnis von der verheerenden Wirkmacht totalitärer, terroristischer, mörderischer, rechthaberischer, antidemokratischer, sich moralisch aufblasender Staats- und Vernichtungsapparate. Obwohl der Staat, vertreten durch Kobas Person totalitär, terroristisch, mörderisch, rechthaberisch, antidemokratisch und moralisch aufgeblasen IST, willigt der zu unrecht Angeklagte in seine eigene Hinrichtung ein. Das Dokument zeigt paradigmatisch, was aus Moral geschehen kann, wenn sie im Schatten absolutistischer und terroristischer Macht verbogen und missachtet wird und dabei vollständig verkommt. Mein Stück ist KEINE Wiedergabe des Bucharin’schen Textes oder etwa eine kompositorische Kontrafaktur / Aufarbeitung desselben. Was ich versucht habe, ist, den ANFANG moralischer Verkommenheit zu detektieren. Ab wann treten Wort und Bedeutung des Begriffs „Moral“ auseinander? Wann und wo geht’s los mit dem Abdriften ins Falsche? Ab wann betritt „moralisches Tun“ einen Weg, der nicht mehr der richtige ist? Welche „Moral“ ist gemeint, wenn der Zweck alle Mittel, vor allem die sprachlichen, heiligt? Wie lange kann ein Begriff gegen seine ursprüngliche Bedeutung gebraucht, bzw. zynisch missbraucht werden, bis er endgültig zerbricht? Hinter welchen lustigen (medialen) Fassaden beginnen Hass und Mordlust ihr wirkmächtiges Täuschungsspiel? Z.B. das altbewährte Spiel der Täter-Opferumkehrung, z.B. das altbewährte Spiel doppelter moralischer Standards, z.B. das altbewährte Spiel beharrlicher Leugnung historischer Fakten u.v.a.m. …

 

Wie auf all das ästhetisch reagieren? Wie kommt man diesen Ungeheuerlichkeiten bei? Kommt man ihnen überhaupt bei? Ist nicht jeder künstlerische Versuch zum Scheitern verurteilt, da die „Wirklichkeit immer die scheußlichere Realität ist als die Kunst“? - Wenn ein „Beikommen“ überhaupt möglich ist, dann durch Satire, Groteskerien, Übertreibungen, Überforderungen (Menge des ästhetisch gleichzeitig Wahrnehmbaren) und extrem gegensätzlichen Auren, die im Theaterraum stattfinden. Denn:

 

Es geht um Moral und moralische Sensibilität. Das ist naturgemäß eine sehr individuelle Angelegenheit, die ausschließlich mich als Einzelperson betrifft. Und insofern ist mein Schauspiel naturgemäß eine individuelle und persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Ethik und Moral. Aber das vollständige ethische Versagen großer Institutionen (allen voran der UN und der EU), das brutale Zu-Tage-Treten unverhohlen antisemitischer Kräfte, die schamlosen Lügenkonstrukte (insb. was die

 

Verbrechen an den jüdischen Mädchen und Frauen angeht) mit denen überall die Wahrheit gebeugt wird und die politische Kälte, samt einer ihresgleichen suchenden mörderischen Rechthaberei in der sog. „westlichen „KulturSzene“, die seit der Katastrophe des 07. Oktobers 2023 überall und in schier endloser Anzahl zu beobachten sind, haben dieses Stück (für mich) notwendig gemacht.

 

FORM:

 

Prolog „Juni-Nacht“

Live-Musik „Prolog“ (Kehlkar_Suite)

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I - a „Vorabend-TV-Spiele-Show“

I - b „Nachruf 1“

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Zwischenstück I - LiveMusik „Allemande“ (Kehlkar_Suite)

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II - a „Parteitag“

II - b „Nachruf 2“

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Zwischenstück II - LiveMusik „Courante“ (Kehlkar_Suite)

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III - a „Krankenhaus“ - „Medizinisches Labor“

III - b „Ermittlungen“

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Zwischenstück III - LiveMusik „Sarabande“ (Kehlkar_Suite)

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IV - a „Bad Segeberg“ - „Platons Höhle“

IV-b „Nachruf 3“

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Zwischenstück IV - LiveMusik „Gigue“ (Kehlkar_Suite)

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V „Talkshow“

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Zwischenstück V - LiveMusik „Badinerie“ (Kehlkar_Suite)

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Epilog „Juni-Nacht“

Live-Musik „Epilog“ (Kehlkar_Suite)

 

Die hier angegebenen Szenen haben Überschriften: „Juni-Nacht“ (PROLOG), „Vorabend-TV-Spiele-Show“ (EINS), „Parteitag“ (ZWEI), „Krankenhaus“ - „Medizinisches Labor“ (DREI), „Bad Segeberg“ - „Platons Höhle“ (VIER), „Talkshow“ (FÜNF) und „Juni-Nacht“ (EPILOG). Damit soll die für eine Inszenierung notwendige Bühnenbild-Orientierung vorgegeben sein. Gemeint sind „Stimmungen“, bzw. „Auren“, die mit den assoziationsreichen Szenen/BühnenbildAngaben verknüpft sind. Diese gilt es auf der BÜHNE / im ZUSCHAUERRAUM zu implementieren. ACHTUNG: Auren und Stimmungen entstehen fast ausschließlich durch LICHT. Das Bühnenbild selbst ist immer minimalistisch, eher an Requisiten, Kleidung und Ausstattungsdetails erkennbar, denn an einem großen Gesamtbild. Das gilt vor allem für die Requisiten und Ausstattungsdetails, die IN GROSSER MENGE benötigt werden, vergl. z.B. „Parteitag“ - !! Es gibt SEHR VIELE Requisiten/ Ausstattungs-Details, die „auratisch“ sind, d.h. die doppelt wirken: (1) - durch ihren „Charakter“ (d.h. Herkunft, Identität), (2) - durch ihre Menge („Schwarm“). Requisiten/Ausstattungs-Details gilt es in zahlreichen VARIATIONEN zu finden und auf die Bühne zu bringen. ANDERERSEITS: Bitte KEINE großen Kulissen und KEINE künstlichen Wände, sondern einen großen weiten OFFENEN Raum, der durch Licht und Projektionen seine verschiedenen „Charaktere“ (s. Formplan) erhält. WICHTIG: für das immersive Videobühnenbild sollen nach Möglichkeit KEINE (!!) Leinwände o.ä. verwendet werden. (Es sei denn, diese sind als solche nicht erkennbar - z.B. an den äußersten Aussen- und Seitenwänden der Bühne!) Für das Auditorium / Publikum gilt: alle Projektionen finden direkt auf den RaumWÄNDEN, auf der RaumDECKE und aufs PUBLIKUM statt. Gleiches gilt auch für die Bühne: SÄMTLICHE Wände sind als Projektionsflächen denkbar! Die Übergänge zwischen dem ästhetischen Raum „Bühne“ und dem Arbeits- und Alltagsraum „Bühne“ bleiben fließend. D.h. fehlen Licht und Projektionen wird aus dem ästhetischen Theaterraum sofort wieder der Alltags- und Arbeitsraum Theater.

 

 

 

 

** Besetzung Marchingband (Kehlkar_Suite): - Piccolo, Klarinette (B), Trompete (B), Bassposaune, kleine Trommel, Akkordeon (15.03.-21.03.2024, gesamt ca 06:30min)

 

Lit.:

Spinoza (Vorlesungen), Anna Tumarkin - 1908

Über die Grundlagen des Lenninismus (Vorlesungen), Josef Stalin - 1924 Die großen Gesänge, Gerd Koenen - 1987

Das Schwarzbuch des Kommunismus, Stéphane Courtois et al. - 1998 Das Rotbuch der kommunistischen Ideologie, Konrad Löw - 1999 Traumfabrik Kommunismus, Boris Groys et al. - 2003

Philosophische Arabesken, Nikolai Bucharin - 2005 Terror und Traum, Karl Schlögel - 2008

Posener Reden, Okt. 1942, Heinrich Himmler - https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0008_pos_de.pdf

 

© Dietrich Hahne 2024 - (Schauspiel + Live-Musik: 23.02.2024 - 21.03.2024)