1. EXZENTRIK

Video auf 10 Flächen, col-sw, 10:51, 2010

 

Die Begriffe  - 1. Exzentrik ("Rückzug in die Ungewöhnlichkeit)" und 2. Exzentrik ("Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts") - sind Peter Sloterdijks Buch "Du mußt Dein Leben ändern" entlehnt, die er dort neu denkt. Das aus der Mitte (wo immer diese ist) Gerückte, oder besser: die aus der Mitte rückenden, exzentriert-exzentrischen Lebewesen, die sich dem Mainstream (was immer er ist) entziehen, bilden den Nukleus seiner Überlegungen. Alle Religionen, alle menschlichen Bewußtseins-, Lebens- und Kunstformen, insbesondere alle "Avantgardismen" (wobei ausdrücklich auch die nicht-künstlerischen gemeint sind) haben mit wenigen "Ver-Rückten" begonnen. Sie alle verbindet, durch Enklavierung und Absonderung verstärkt, extreme Selbstdisziplinierung und lang andauerndes Selbst-Training/-Übung; geistig, seelisch, mental, körperlich, psychisch, künstlerisch, ästhetisch etc.

 

Mit "1. Exzentrik" wird der Prozess der Entkoppelung einiger Weniger vom Normal-Ganzen beschrieben; die "2. Exzentrik" umreißt die Rückkehr dieser "Exzentriker" ins Normal-Ganze. (Das Letztere anders zurückkehren, als sie gingen, versteht sich von selbst.)

 

Um vorzubeugen: Meine beiden "Exzentriken" sind n i c h t als Sonifizierung/Visualisierung von zeitgenössischer Philosophie zu verstehen; an einer Affirmation des im Buch Beschriebenen hatte ich kein Interesse. Im Gegenteil: meine Stücke bilden eine "kritische" Distanz zum Text, indem sie mittels bewegtem Klang und bewegtem Bild Konnotationen hervorrufen, die nicht (oder nicht unmittelbar) dem Buch zu entnehmen sind. Gleichwohl sind sie rückgebunden an Sloterdijks Überlegungen, weil sie durch diese "kritisch" inspiriert wurden.

 

Konkret: in meiner 1. Exzentrik (Video auf 12 Flächen) geht es um den ersten sozialistischen, d.h. gesellschaftlich-avantgardistischen Großversuch auf deutschem Boden - die DDR. Das dieser scheitern würde, wurde spätestens am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer ("Rückzug in die Ungewöhnlichkeit") augenfällig. Das für mein Multichannel-Video verwendete Material stammt ausschließlich aus Dokumentationen, die in den Wochen unmittelbar nach dem Mauerbau im Deutschen Fernsehen gezeigt wurden.

 

Für meine 2. Exzentrik (2 Klaviere, 2 Schlagzeuger, Soundtrack und Video auf 12 Flächen) habe ich Material aus dem Film "Seven" von David Fincher (USA, 1995) verwendet. Finchers kryptokatholische Arbeit erzählt die Geschichte eines Serienkillers, der sieben („Seven") Morde begeht: allerdings nicht irgendwelche, sondern extrem ausgeklügelte, gleichsam "auskomponierte" Mord-Exzesse, die die 7 kanonisierten Hauptsünden (Todsünden) der katholischen Kirche nachinszenieren. Durch seine Taten charakterisiert der zurückgezogen lebende Killer (Kevin Spacey) die Welt als verachtenswerten Ort, dessen Einwohner jegliche Daseinsberechtigung eingebüßt haben. Diese Form einer "Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts" kann als erzieherisch-notwendige Maßnahme verstanden werden, einer selbstgefällig-bigotten Masse zu zeigen, dass ihre Lebensweise bloße Verachtung, ja Vernichtung verdient. - (Mörderischer) Hochmut spiegelt die andere, dunkle Seite der "Exzentriker".  (DH)