JENER

drei tonale Epiloge nach dem gleichnamigen Gedicht von Gottfried Benn (1952)

für Piccolo, 2 Klarinetten, 2 Posaunen, Percussion, Streichquartett, Orgel und Mezzosopran (I - 02:59, II - 03:35, III - 04:14, 2019/2021, Audio-Simulation)

Meinem Bruder Albrecht Hahne gewidmet (1962-2020)

 

 

 

 

JENER

Ich habe die Erde oft gesehen

und sie manchmal auch verstanden, Sterben und Stille und Auferstehn, Korn und Flechten und Laubverwehn, auch Moore, wo sie sich fanden.

Doch wie sieht die Erde für Jenen aus: „Komm in unser umblühtes Haus?“

 

Ein Jubel aus Süden, ein Liebesschwarm von Malven über den Stufen

zum Saale, zum Garten, die Brunnen warm, Zikaden rings um den Villencharme,

die sonneversengten, rufen.

Sieht so die Erde für Jenen aus: „Komm in unser umblühtes Haus?“

 

Ich weiß es nicht, ich kann auch nicht weder Norden noch Süden trauen,

ich glaube, erst wenn der Raum zerbricht, erst wenn die Stunde der Träume spricht, kommen Oleander und Pfauen.

Dann sieht die Erde für Jenen aus: „Komm in unser umblühtes Haus.“

 

Gottfried Benn (1952)

 

 

 

 

Mein Bruder Albrecht Hahne starb überraschend im Dezember 2020 an einem Herzinfarkt. Die drei Sätze, die hier wiedergegeben sind, waren zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen fertig. Ich habe sie 2021 umgearbeitet und ihm gewidmet. Jemanden zu vermissen, an ihn zu denken, ist das eine, sich vorzustellen, wo er nun sein mag, in welchen „umblühten Häusern“ er nun wohnt und ob er dort das bessere Leben hat, das er verdient, etwas ganz anderes. Aber es tut gut zu wissen, dass es so sein könnte! -

 

Drei Sätze habe ich zu komponieren versucht, die sich langsam entwickeln, nach und nach weg von den irdischen Trauerklischees. Den ersten Satz könnte man noch am ehesten als Trauergesang bezeichnen. Er ist gesetzt, schön und am Ende mit einer kleinen Coda versehen, die auf den Anfang zurückverweist, dorthin, wo alles begonnen hat. Der Abschied wird greifbar, hoffe ich, durch diese traurige Wiederkehr. - Der nächste Satz behält den Trauerton bei, aber er hat eine andere Textur und Harmonik. Es kommt etwas hinzu, das man im Diesseits verorten möchte und im ersten Satz nicht hört. Überall quillt und fließt es plötzlich. Ich stelle mir vor, dass Alu dort ist: wo es quillt und fließt, im Blau, im Süden, in der Wärme. Brunnen glitzern in der Sonne. Ein Garten ringsum. Hinter den großen Bäumen leuchtet das helle Haus, eine mediterrane Villa, die uns freundlich erwartet, wenn wir müde werden. Satz II ist der mittlere, der zentrale Satz. Aber sein Ende ist nicht mehr Rückgriff auf den Anfang wie zuvor. Hier kommt mit der lang ausgehaltenen Fermate der Ernst ins Spiel. Und der heißt Unumkehrbarkeit! Keine Rückkehr ins Hier und Jetzt kann mehr sein, nur bloße Hoffnung noch, aber die ist vergebliche Mühe. Nicht-Wendepunkt. Endgültigkeit. - Der letzte Satz ist harmonisch eng an den ersten angelehnt. Er bildet im Großen die Wiederkehr, wie sie die Coda im ersten Satz im Kleinen exponiert hat. Das Ganze ist eine große Wiederholung des ersten Satzes. Aber alles verläuft seltsam anders. Was dort gesetzt und zu Beginn voller Trauer war, wird jetzt travestiert. Ein seltsam surrealer Drift. Komisches Theater. Ich hatte beim Komponieren das Gefühl alles dreht sich, alles steigt und fällt, wird Karikatur. Nicht der gravitätische Tod ist hier gemeint, sondern sein lächerlicher Gevatter. Die Orgel klingt nicht sakral, sondern eher wie auf dem Jahrmarkt. Pfeifen, Triangeln und Trommeln quietschen, virtuelle Karusselle drehen sich. Das Panorama ist voller Leben. Aber keiner lacht. Dem Publikum ist schwindelig. Ist überhaupt jemand da? Auch hier ist Unumkehrbarkeit hinter allem Gelärme da. Was im zweiten Satz am Ende geschah, wird jetzt dreimal (!) wiederholt. Drei pathetisch- gehaltene Fermaten! Dieser Schluß ist eigentlich viel „zu groß“ für diesen Satz. Gestisch disloziiert. Diese drei Schläge könnten einen sinfonischen Satz beenden. Aber das tun sie hier nicht. Und dennoch sind sie nötig. Denn jede Rückkehr ins bekannte Hier und Jetzt ist für ihn ausgeschlossen. Er ist anderswo ab jetzt, ich muß es mir immer wieder klarmachen. Ich muß mich vergewissern, dass Alu nie wiederkehren wird. „Ihr, die ihr hier eintretet - lasst alle Hoffnung fahren“, sagt der Dichter. Aber hat er Recht? Nein!! Der Bruder hat jetzt ein besseres Leben. Reicher. Heller. Lichter. Und das hat er (sich) verdient! - Lebe wohl mein Lieber, dort, wo immer Du bist. -